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Die Sieger der Tour de France


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Das gigantische Radrennen um Frankreich

Prof. Dr. Aline Furtmüller

Glanz und Heldentum

Ein riesen Sportplatz bei Paris. In der heißen Julimorgensonne drängen viele tausende von Menschen, junge, ältere, weniger Frauen als Männer, um eine abgesperrte Bahn. Sie alle möchten einen Blick auf ihre Helden werfen: Hundert Fahrer sind am Start, hundert Auserwählte von zwei- oder dreimal so viel Angemeldeten. Wer wählt aus? Wie und warum wird da gewählt? Die wenigsten dieser schwitzenden, schreienden, begeisterten Zuschauer wissen es. Auch die zahlreichen Leser der großen Pariser Sportzeitungen begnügen sich mit den Tatsachen, die ihnen mitgeteilt werden: Das Radrennen um Frankreich, von Paris ans Meer, die Normandie, die Bretagne entlang, dann über Bordeaux nach Bayonne führend, die Pyrenäenpässe zum Genfer See, die ganze Ost- und Nordgrenze entlang bis zum Ärmelkanal und zurück nach Paris - diese Riesenunternehmen, 5000 Kilometer zu Rad, wurde 1903 von dem Herausgeber eines großen Sportblattes gegründet und seitdem, mit Ausnahme der Kriegsjahre jedes Jahr im Juli durchgeführt. Wie die großen Geldmittel, die für Geldpreise, Ausrüstung, Verköstigung, Unterbringung, Empfang, Überwachung so vieler Rennfahrer und so vieler Begleiter nötig sind, aufgebracht werden, das erfahren die Leser aus den Sportblättern nicht. Stellen wir also diese Frage einstweilen zurück. Die Rennbedingungen macht bis heute - 1931 fand das fünfundzwanzigste Frankreichrennen statt - ganz selbständig und selbstherrlich der Begründer dieses "Tour de France". Er entscheidet, wer teilnimmt, welche Strecken, welche Stationen, welche Mindestzeiten gemacht werden, welche Erschwerungen oder Erleichterungen gelten, er setzt die Gewinne und Teilgewinne fest, aber auch die Strafen, die den Fahrern vielfach drohen. Doch alle diese Einzelheiten kümmern die Menge sehr wenig, während sie gebannt auf den Platz hinstarrt, wo hinter Journalisten, Photographen, Managern, Pflegern und einer ganzen Autokolonne die bunten Lieblinge, die Rennfahrer, auf den Moment der Abfahrt warten. Dutzende von Namen werden gebrüllt, immer wieder brausen Hochrufe, wenn für einen Augenblick ein blaues, grünes, gestreiftes Trikots sichtbar wird, um das sich die Ersatzreifen schlingen. Früher bezeichneten die Trikots die verschiedenen rad- und Pneumatikfirmen; seit 1930 sind die Klassefahrer nach Nationen gruppiert; das Publikum aber jubelt seinen Helden zu, ohne zufragen, was ihre Farbe bedeutet.

Ein anderes Bild. Gigantische Rennbahn, vollbesetzte Tribünen, lebensgefährlich überfüllte billige Plätze, jedes ersteigbare Stückchen Planke oder Mauer von waghalsigen Burschen besetzt, unten Schiedsrichter, Zeitnehmer, die oberste Sportleitung - am Zielband. In der Bahn ein paar Vorführungen, Kunststückchen, ein wenig Radpolo etwa, nur zum Ausfüllen der Wartezeit. Die Menge fiebert. Endlich, fast gleichzeitig, die Ankündigung des Lautsprechers und von draußen ein dumpfes, tausendstimmiges Brausen der Massen, die die Straße kilometerweit vor de Stadt umlagern: "Sie kommen! Sie kommen!" Und schon fahren die ersten in dichtgedrängtem Rudel in rasendem Tempo ein; unter dem tobenden Beifallsstürmen der entfesselten Zuschauer wird der allerletzte Endkampf ausgefochten und oft kann gerade noch er Schiedsrichter unterscheiden, wessen Rad um 30 Zentimeter vor dem andern durchs Ziel gegangen ist. Alles, was saß, ist von den Sitzen aufgesprungen und jubelt dem Sieger zu, ein junges Mädchen - womöglich die jeweilige Schönheitskönigin, während es früher ein Bürgermeisterstöchterlein war - überreicht ihm einen riesigen Blumenstrauß, und mit dem etwas unpraktischen Strauß im Arm muß der staub- und schweißbedeckte Held zu den 300 Kilometer dieses Tages noch die ehrenrunde um die Bahn fahren. Aber er fährt sie nicht ungern.

So ungefähr sehen die Massen die Rennfahrer. In kleinen Orten sind es Hunderte, in größeren Tausende, in Großstädten Zehntausende, sie Start und Endspurt umdrängen. Tage, ja Wochen lang verfolgen sie im Sportblatt Erfolg und Reihung der Klassefahrer, deren Namen jedem in Balkenlettern oder wenigstens fett gedruckt entgegenspringen. Und kann auch nur einer Sieger sein und gibt es auch manchmal einen unangenehmen Zwischenfall - was für ein Glanz umstrahlt doch diese Helden des Sports, auf welchen Höhen leben doch diese Überwinder aller Pein und aller Schwierigkeiten, die den gewöhnlichen Menschen abschrecken! Hohe Gewinne, hohe Ehren, Glanz und Berühmtheit, die Liebe von tausenden - ein herrliches, ein beneidenswertes Los!

Die Kehrseite

Freilich: wie sieht es zwischen Start und Ankunft aus? Was geht hinter den Kulissen dieses festlichen, aufregenden Sporttheaters vor? Auf diese Frage antwortet ein Rennfahrerroman von André Reuze, der vor einigen Jahren in französischen Sportstreifen ungeheures Aufsehen gemacht hat. Er schildert die grausamen Leiden und Mühsale der Rundfahrt, die vielen körperlichen Schmerzen und seelischen Anspannungen, die die Fahrer ertragen müssen. Er schildert, wie alle diese Helden - nicht nur Helden vor der Menge, auch Helden im Ertragen und in der Kraftleistung - ausschließlich im Dienst der großen Rad- und Pneumatikfabriken stehen, deren Helfer auch Sportpresse und Sportmanager sind. Er zeigt, wie die Konkurrenz zwischen verschiedenen Firmen - jede von einer Mannschaft vertreten - nicht bloß durch die Kraftanstrengung der Fahrer, sondern oft durch unerlaubte Mittel, durch Bestechung und Hinterlist, durch Gewalt und Bosheit, ja selbst durch lebensgefährliche Verbrechen ausgetragen wird. Da gibt es ausgestreute Nägel, gesundheitsschädlichen Proviant, heimliche Radbeschädigungen - und dafür unter den Rennfahrern natürlich auch allerhand unerlaubte Dinge, von den Nervenmitteln bis zu schwindelhaften Verabredungen, um den Sieg künstlich zu bestimmen, und den Gewinn zu teilen. Daraufhin gab es, wie man sich leicht vorstellen kann, Empörung und Widerspruch ohne Ende bei allen Betroffenen. Das sei alles nicht wahr, schrieben die Sportzeitungen, oder wenn schon ein Körnchen Wahrheit daran sei, so sei es maßlos übertrieben, entstellt, gefärbt; der Verfasser sei ein Verräter am Sport, ein Verräter an seinem Land!

Auf unsere Frage nach der Kehrseite der großen Frankreichfahrt kann uns also der Roman - so interessant, spannend und sportbegeistert er geschrieben ist - nicht unbestrittene, unbedingt zuverlässige Auskunft geben. Die wollen wir uns dort holen, wo sie niemand bestreiten kann: aus den Berichten der französischen Sportpresse selber. Dort suchen wir aus den großen und kleinen Artikeln, Berichten, Inseraten zu erfahren, wie die Rennfahrer während des Straßenrennens leben und wer von diesem ganzen Unternehmen Nutzen zieht.

Rennfahrers Leiden

Zuerst eine Feststellung. Seit 1930 ist die große französische Rundfahrt ganz grundlegend verändert worden. Statt der "Ställe" (jede Mannschaft, die für eine Firma startete, hieß "Stall Soundso") gibt es mehrere Nationalmannschaften; 1930 gab es fünf Nationen, Belgier, Italiener, Spanier, Deutsche, Franzosen, zu je acht Mann, das waren die großen Klassefahrer; daneben waren noch sechzig Einzelfahrer zugelassen, deren Nennung durch die französischen Ortsradfahrverbände erfolgt war. Die Auswahl steht immer dem Begründer und Leiter zu. Er ist in der Ablehnung der früheren Gewohnheiten noch weiter gegangen: die Klassefahrer mußten durchwegs namenlose Räder und Pneus benützen, die ihnen von der Rennleitung zur Verfügung gestellt wurden. Das hatte einen weiteren Vorteil für die Fahrer zur Folge: während sie früher bei Materialschäden an harte, oft unmögliche Bedingungen gebunden waren, fährt jetzt ein Lastauto mit Ersatzrädern und Radbestandteilen mit, das den Beschädigten Hilfe bringt - freilich nicht immer gleich schnell; gerade die Spitzenfahrer, bei denen jeder Zwischenfall entscheidend werden kann, müssen mitunter lang warten. Ferner sind die allzuweiten Teilstrecken verkürzt worden, die nicht selten eine Tagesleistung von mehr als 400 Kilometern verlangten; die Pyrenäenetappe, die auf 360 Kilometer vier gigantische Gebirgspässe zwischen 1600 und 2200 Meter Höhe aufwies, wurde halbiert, auch die übrigen Gebirgsetappen - der Sospelberg bei Nizza, die Alpenstrecke - etwas gemildert. Es sind also die Übelstände beseitigt, die Reuze am schärfsten angegriffen hat - da muß wohl sein Buch gewirkt haben. Die Milderung der Rennbedingungen zeigt sich darin, daß die Zeitdifferenz zwischen Spitzenfahrern und den letzten Einzelfahrern viel kleiner geworden ist. 1930 betrug die beste Zeit des ganzen Rennens (über 4818 Kilometer) 172 Stunden 12 Minuten 16 Sekunden; aber siebenunddreißig Fahrer vermochten eine zeit von etwa 178 Stunden zu erreichen, und nur zweiundzwanzig blieben dahinter zurück, die schlechteste Zeit war 187 Stunden 22 Minuten. So kam es auch, daß die Besten oft große Strecken in dichten Gruppen (das"Feld") fuhren und selbst im Endspurt der Tagesetappen bis zu dreiundsechzig, einmal sogar fünfundsiebzig Rennfahrer gleichzeitig ankamen. Was geschah? Die Sportberichterstatter beklagten sich, daß durch solche Nachgiebigkeit die Rundfahrt für die Teilnehmer zu bequem (!) und für das Publikum zu uninteressant werde. Es wurde bedauert, daß die gefürchtete Pyrenäenstrecke nicht ihre "tragische Größe" behalten habe und vorgeschlagen, durch Einzelstart die Fahrer zu größerer Kraftanstrengung zu zwingen. Da allgemein bekannt ist, daß gemeinsames Fahren äußerst vorteilhaft und ermunternd wirkt, sollte den Fahrern diese Möglichkeit entzogen werden!

Nun, all diese grimmigen Proteste der Füllfedersportler blieben einstweilen unberücksichtigt. Aber auch so geht es noch scharf genug zu, der erforderte Stundendurchschnitt beträgt 30 Kilometer und es wimmelt von Geld- und Zeitstrafen aller Gnade - wegen Nichteintragung in der Kontrollstation, wegen Annahme einer Feldflasche von einem Passanten, wegen auffallenden Benehmens in einer Raststation, wegen Zurückbleibens, um einem Kameraden zu helfen; man sieht, wie jede Bewegung der Fahrer unablässig scharf kontrolliert wird. Kontrolliert von der Rennleitung, die endgültig entscheidet; besprochen, beschwätzt, beurteilt von einem halben Dutzend Sportzeitungen und einigen Dutzend Tageszeitungen, deren Vertreter mit Füllfeder und Kamera immerfort die Fahrer umlagern, schildern, photographieren, ausfragen, begönnern, bekritteln.

Das wäre ja nicht so arg, wenn nicht alles andre dazukäme. Aber alle kleinen und großen Unannehmlichkeiten, die einem Radfahrer in Jahren zustoßen können, drängen sich hier in Tagen zusammen. Staub und Hitze ist gar nichts Besonderes; aber 300 Kilometer Staub und Hitze in nervenanspannenden Dreißigertempo gefahren, neben, zwischen, vor, hinter hundert anderen Fahrern, im Staubschweif einer endlosen Autokolonne: das kann schon fühlbar werden, kann auch zu störender und schmerzender Augenentzündung. - Ein Bahnübergang kann, je nach Temperament, Anlaß zu waghalsigem Versuch, zu Wutausbrüchen, zu gemütlicher Rast geben; beim Straßenrennen kann das Tagesergebnis durch den Zufall geschlossener Bahnschranken verschoben werden. - ein geplatzter radreifen ist nie ein vergnügen; aber wenn jedes Absteigen eines Radfahrers von den Konkurrenten mit einem Geschwindigkeitskoller beantwortet wird, wenn er weiß, daß die Sekunden des Aufmontierens doppelte Anstrengung im Nachjagen hinterm Feld bedeuten, wenn ihm etwa vier bis sechs Reifen an einem Tage platzen: dann kann dieses kleine Radfahrpech zuingrimmiger Verzweiflung bringen. - Das ein Radfahrer einmal stürzen kann, weiß auch die besorgteste Mutter und nimmt es nicht im mindesten tragisch, wenn ihr Junge mit zerschundenen Händen und Knien heimkommt. Aber im scharfen, rücksichtslosen Straßenrenntempo hat ein Sturz schon ernstere Folgen; bei den kurvenreichen Talfahrten, wo die Fahrer oft den Zeitverlust der Bergkletterei und des häufigen Übersetzungswechsels durch rasendes Tempo (60 bis 70 Kilometer!) wettmachen wollen, kommen immer wieder Knochenbrüche vor; auch beim Durchqueren von Ortschaften gibt es unvorhergesehene Hindernisse, undisziplinierte Zuschauer, Fuhrwerke, die Zusammenstöße und Unfälle verursachen; sehr oft sind es Begleitautos und Motorräder; aber das schlimmste ist, daß der gestürzte Radfahrer sich trotz ganz erheblicher Verletzungen und trotz der Nervenerschütterung nicht einen Augenblick Ruhe, Erholung oder Pflege gönnen darf, sondern weitertreten muß, weiter, so lange er das Bein bewegen kann. Jammervoll sehen diese einbandagierten Menschen aus, wenn sie mit schmerzverzerrten Gesichtern in allerhand notgedrungenen Verrenkungen mehr am Rad hängen als auf ihm sitzen. Da geschieht es auch, daß einer nach zwei Stürzen auf dasselbe Bein von der zweiten Stelle im Gesamtergebnis auf die einundfünfzigste hinabgleitet (wie es dem italienischen Klassefahrer Binda 1930 in der Etappe Bordeaux - Hendaye erging). Und niemand kann es wundern, wenn ein Radfahrer nach solch gehäuften Unfällen gänzlich die Nerven verliert und mitten am Straßenrand in Schluchzen ausbricht, unbekümmert um die neugierigen Blicke und mitleidlosen Photoapparate. So ging es 1929 dem beliebten Fontan, der in den Pyrenäen wegen mehrerer Stürze und schwerer Raddefekte aufgeben mußte, obwohl bis dahin Erster. Im nächsten Jahr zwangen ihn unaufhörlich eiternde und schmerzende Furunkel wieder, in den Pyrenäen auszuscheiden. Wie war das mit dem 1930er Sieger Leducq? Nach den schrecklichen Anstrengungen der Pyrenäen (von hundert Startern, in Paris waren nur noch sechsundsechzig geblieben) hatten die Fahrer die trockene Gluthitze der südfranzösischen Straßen - ohne Baum, ohne Strauch, ohne Wiesengrün ringsum, nur Steinhügel, Heide, Staub - zu durchqueren, wobei zu den entzündeten Augen noch allerlei Magenkrämpfe und Darmkatarrhe auftraten; dann, immer noch in Sonnenglut, die Bergfahrt auf den Sospel bei Nizza - Start um 12 Uhr mittags! und nun begann die Alpenfahrt, nach einem Rasttag in Nizza. Start um 3 Uhr früh, bei eisiger Kälte und heftigem Nordwind, Sturm und Kälte den ganzen Tag, so daß die Bergfahrt über die ersten Pässe erkämpft werden mußte. Nächste Etappe Grenoble - Evian, über den Lautaret (2058 Meter), den gefürchteten Galibier (2658 Meter) mit seinen 12 Prozent Steigung und den Aravis (1470 Meter). Die Abfahrt vom Galibierpaß ist schrecklich, eine ganz zerfurchte schlammige Straße. Leducq hat Reifenschaden, zieht fieberhaft rasch Pneumatik auf, fährt los, um einzubringen - aber in einer Kurve der elenden Straße stürzt er, schlägt Knie und Gesicht blutig und besieht sein Rad: Pedalkurbelbruch! Völlig gebrochen, überließ er sich der Verzweiflung: über zehn Minuten Rückstand, mindestens ebensoviel, ehe das Materialauto kommen konnte - das war nicht mehr gutzumachen! Es wurde dennoch gutgemacht, durch aufopfernde Kameradschaft und durch ungeheure Willenskraft. Leducqs Mannschaftskamerad Bidot, der ihm zuerst nachkam, überließ ihm sofort das eigene Pedal und wartete selbst das "Rettungsauto" ab. Leducq aber brachte es zustande, trotz vierzehn Minuten Rückstands, trotz der Verletzungen, trotz des Aravispasses die Spitze nach 90 Kilometer Nachjagen einzuholen und in strömendem Regen als erster in Evian ans Ettapenziel zu kommen.

Das ist nun freilich ein Heldenstück. Aber aller Heldenmut versagt vor den greulichen Widerwärtigkeiten einer 300-Kilometer-Fahrt in strömendem Regen. Schlammspritzend, schlammbespritzt schleifen die Räder durch das Kotmeer der Straße, deren Unebenheiten nicht sichtbar, aber um so härter fühlbar werden. Räder und Fahrer scheinen zentnerschwer zu sein. Kot spritzt in die Augen und blendet. Es sind zu wenig Gummimäntel da! Viele Fahrer sind ganz durchnäßt, alle bis zur Unkenntlichkeit über und über schlammbedeckt. Doppelt fühlen sie in dieser erbärmlichen Stimmung die entzündeten Augen, die wunden Glieder, die Furunkel am Gesäß - diese erste und schmerzhafteste Plage des Straßenfahrers - und selbst die Ankunft in einem abschüssigen Stadtteil Belforts wird zu neuer Gefahr; von Zuschauern bedrängt, durch steile enge Gäßchen bergab geht's zur Rennbahn, noch beim Eingang stürzt einer gefährlich, bis endlich die Spitzengruppe einfahren kann. - Daß es schließlich auch beim Endspurt Zwischenfälle geben kann, ist bei der Überreiztheit nach solchen Tagesleistungen nur zu begreiflich. Einer streift den Konkurrenten mit dem Rad oder behindert ihn gar - daraus wird, je nach der Stimmung und Widerstandskraft der Beteiligten, eine gereizte Bemerkung - eine offizielle Beschwerde an die Rennleitung - eine Keilerei. - das sieht etwa so aus. Dritter Regentag, 19. Etappe, zwei Tage vor dem Ende der Rundfahrt. Endspurt in der Charleviller Radrennbahn, von einundzwanzig Fahrern bestritten. In der letzten Kurve behindert der Franzose Pelissier den Italiener Guerra und geht als Erster mit einer halben Radlänge durchs Ziel. Guerra beschwert sich sofort; um die abgestiegenden Sieger drängen sich Manager und Zeitungsleute. Man ergreift Partei und hetzt die beiden aufeinander. Guerra tritt auf Pelissier zu und schlägt ihm ins Gesicht. Pelissier läßt sein Rad los und boxt zurück. Auch unter den Zuschauern kommt es zu Prügeleien. Das ganze dauert nur einige Minuten, aber peinlich blieb es doch. Unter solchen Umständen muß es besonders vermerkt werden, daß, als 1930 zum erstenmal eine deutsche Mannschaft am Frankreichrennen teilnahm, kein einziger Zwischenfall das freundliche Verhältnis zwischen den Deutschen und den übrigen trübte. Die französischen Zeitungen lobten die Leistungen der Deutschen und ihr ruhiges, angenehmes Wesen und freuten sich, daß ein Deutscher im Endergebnis an zehnter Stelle stand; und niemand verübelte es dem zwanzigeinhalbjährigen Jüngsten, daß er sein Alter um ein halbes Jahr höher angab, um das rennen mitmachen zu können.

Sport und Geschäft

"Die kluge Hausfrau verwendet nur Amanns Kunstfett." - "Warum verlangt jeder Raucher Bemanns Zigaretten?" - "Mutti, wasch mich immer mit Cemanns Seife!" Das ist die uns schon ganz gewohnte Art der Reklame, wie wir sie auf Anschlagwänden und -säulen, in Zeitungsankündigungen tausendfach finden. Der Fabrikant sucht das Publikum zu gewinnen. Aber immer häufiger taucht eine andere Art der Reklame auf. "Der weltberühmte Dichter N. N. mit seinem Demann-Sportauto." "Der große Sänger P. Z. trägt eine Emann-Uhr." Das gefällt uns nicht. Soll das Auto für den Dichter oder der Dichter für das Auto Reklame machen? Bekommen Dichter, Sänger, Schauspieler für diese Verwendung gezahlt? Für den, der den Dichter oder Sänger aufrichtig, herzlich verehrt, ist das eine peinliche Frage. Und nun noch eine andre Art Reklame. In Aufsätzen Pariser Sportblätter über die Frankreichfahrt kann man solche Stellen finden: "Unsere Spezialberichterstatter machen die ganze Rundfahrt in einem 'Auto', auf 'Pneumatiks', mit 'Oil' mit."

Das gefällt uns schon gar nicht. Für die Ankündigung zahlt der Fabrikant, aber den Text zahlt der Leser; auf die Reinheit, Richtigkeit und Unparteilichkeit des Textes will er sich verlassen können. Nun, die Frankreichfahrt bietet reichlich Gelegenheit für alle Arten von Reklame. Während der ganzen drei bis vier Wochen erscheinen Rieseninserate aller möglichen Rad- und Radzubehörfabriken, in denen die Namen der beliebtesten Rennfahrer immer wieder auftauchen. Jeder Etappensieg spiegelt sich sofort im Anzeigenteil der Zeitungen; man sieht, wie die Fabrikvertreter die Ergebnisse des Tages abwarten, um sofort die entsprechende Reklame einschalten zu lassen, so daß der Leser am nächsten Morgen nebeneinander den Text: "Pelissier, - Sieger der ersten Etappe!" und das Inserat erblickt: "Pelissier, der Sieger der ersten Etappe, trägt das Trikots der Firma'*'."Dabei ist es gar nicht etwa ein Vergnügen für die Sportler. Aber sie können sich nicht wehren, denn die hohen Preise, für den Rundfahrtsieger wie für die Etappensieger, für Klassefahrer und - bedeutend mäßiger - für Einzelfahrer, werden von firmen und Zeitungen aufgebracht. Die Zeitungen verdienen an den gewaltig erhöhten Auflagen, die Firmen ziehen daraus für ihre Reklame Vorteil; alle Sportunternehmer rechnen mit dem vermehrten Interesse der Menge in allen Orten, die von der Rundfahrt berührt werden; und was bedeuten alle gewinne der wenigen Sieger neben der Summe von 350.000 franken, die die Pariser Sportarena im Parc des Princes am Tag der Ankunft der Frankreichfahrer eingenommen hat?

Das gewaltigste Straßenrennen der Welt wird einstweilen noch weiter gelaufen. Die Anzahl der Etappen, die Anzahl der Straßenkilometer, die Auswahl der Fahrer, die Rennbestimmungen mögen wechseln; was gleich bleibt, ist die ungeheure qualvolle Anstrengung der vielen braven Radfahrer , von denen nicht einmal ein Zwanzigstel auf die Kosten kommt, und die Vorteile, die die Sportunternehmer, die Sportblätter und die beteiligten Firmen dabei haben. Mit Jugendsport, mit Volkssport, mit Leistungsfreude und Gesundheit hat das alles wenig zu tun.

(Quelle: Frohes Schaffen, das Buch für jung und alt; Copyright 1931 by Deutscher Verlag für Jungend und Volk, G.m.b.H., Wagner'sche Universitäts-Buchdruckerei, Innsbruck; Jadu 2000)


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