AUTORENNEN
Von Zivil-Ing. R.J.Schmeißer Es
gibt Skeptiker, die in der Bestreitung eines Automobilrennens kaum mehr als die
Befriedigung einer gewissen Sensationslust sehen möchten. Ganz zu Unrecht, denn
Sportsgeist und Freude am Erfolg, die die Hauptfaktoren des Rennsportlers bilden,
sind Verschwendung am untauglichen Objekt, wenn der zum Siege zu steuernde Rennwagen
nicht allen Anforderungen entspricht, die die mörderischen Prüfungsstrecken, -methoden
und Zeiten des Rennens an die Maschine stellen. Autorennen stellen, vom Gesichtspunkt
der Praxis aus gesehen, also lediglich die praktische Erprobung auf die Brauchbarkeit
eines Modelies um ein Vielfaches der theoretisch errechneten Sicherheitsdaten
technischer Art dar, die die Richtigkeit neuer oder verbesserter Gedanken bestätigen
sollen. Was gestern
noch an einem Rennmodell neu war, eine Sensation bildete, ist heute Allgemeinbesitz
der Sport- und Tourenwagen und wird morgen selbstverständliche Voraussetzung für
die Bewertung eines guten Motorfahrzeuges sein. So nahm die Vierradbremse den
Weg über den Rennwagen — da sich die Bremsstrecken bei der Zweiradbremse als viel
zu lang erwiesen —, und heute ist die Vierradbremse zum unentbehrlichen Sicherheitsinstrument
für jedes Automobil geworden. So wurde der Kompressor der Mercedes-Werke, zuerst
im Rennwagen erprobt, immer mehr ein wesentliches Zubehör des modernen Sport-
und großen Tourenwagens. Er verleiht, in den Bergen angewandt, dem überlasteten
Reisewagen ungestüme Steigungskraft und gestattet dem Autofahrer, aus dem Stillstand
den Wagen mit großer Schnelligkeit selbst in schärfste Steigungen zu nehmen. Langjährige
Erfahrungen der verschiedenen Rennen brachten des weiteren die Gewißheit," daß
nur dem Sechs- und Achtzylinder wegen ihrer hohen Leistungssteigerung, Elastizität,
Geräuschlosigkeit, Schwingungsfreiheit und Durchzugsfähigkeit die Zukunft gehört.
Kurz — die Rennerfahrungen werden für den Serienbau der Industrie nutzbar gemacht.
Der Rekord- und Siegerwagen des Rennens, die überlegene Konstruktion, strahlt
seine belebende Wirkung durch das nachträgliche Herausbringen von Siegerserien
aus, die in sich alle Vorzüge konstruktiver Neuerungen des Rennmodells vereinigen. Wer
das vollendete Rennmodell auf der Bahn in wilder Hast durch die Kurven stieben
sieht, ahnt nicht einmal die elementarsten Voraussetzungen seiner Konstruktion.
Minutiöseste wissenschaftliche Arbeit in Laboratorien und Konstruktionssälen,
langwierigste und kostspielige Versuche bildeten den dornenvollen Weg der Werke
zur Tat. Nur wenige Eingeweihte ahnen die unendliche Mühe, die unsagbare Geduldsarbeit,
die kaum zu meisternden Hindernisse, bis endlich unter Anspannung aller Energien
und unter Einsetzung allen Könnens und Wollens eine vorbildliche Konstruktion
entstehen konnte. In
Gegenwart der leitenden Köpfe der Fabrik, der Werkingenieure, der Einfahrer und
Monteure wird dann das neue Modell auf der Werkbahn der ersten Prüfung und Erprobung
unterzogen. Fachleute der Nebenindustrie sind zugegen, um an Ort und Stelle sich
davon zu überzeugen, ob neue oder verbesserte Fabrikate ihrer Firmen sich bewähren
oder Abänderungen notwendig machen. Sei es das Öl, das den Motor trotz der
Siedehitze Spitzenleistungen vollbringen läßt, sei es die robuste Bereifung, die
dem Fahrzeug erlaubt, mit größter Sicherheit durch die Kurven zu gehen, ohne daß
ein Reifen „abmontiert", oder der Kompressor, der dem Motor kraftvoll das Gasgemisch
in die Lungen führt. Jeder Teil am Wagen ist wichtig und muß schärfster Erprobung
standhalten. Dann
kommt der große Tag. Alles ist bis ins kleinste vorbereitet. Die Königin des Gestirns
spendet dem großen Ereignis ihre besondere Gunst. Der schnittige, zinnoberfarbene
Rennwagen, dessen Nickelteile im Scheine der Morgensonne silbern glitzern, ist
bereits von der Startkommission abgenommen und erscheint mit dumpfem Böllern seiner
acht Zylinder am Start, von den Tausenden von Zuschauern auf den Tribünen lebhaft
begrüßt. Neugierig und verwundert mustern die Fahrer der Konkurrenzwagen das neue
Modell, an dessem Steuer Caracciola, der gefürchtete Rennfahrer, sitzt. Zittern
durchläuft die schlanke blitzende Karosserie des Rennwagens, dumpf donnert es
aus dem gleißenden Auspuffrohr. Der Motor arbeitet sich warm, die Kolbenstöße
werden stärker, und mit großer Wucht stößt die Willenskraft des Motors die verbrannten
Gase aus dem stählernen Auspuff. Aufgeregt wartet alles auf das Startzeichen.
Siegeszuversicht malt sich auf den Gesichtern der Rennfahrer, die schon so manchen
Rennwagen zum Siege gesteuert und den wohlverdienten Lorbeerkranz oder Siegesbecher
errungen haben. Plötzlich
tiefe atemlose Stille und Spannung in den endlosen Menschen- reihen auf den Tribünen.
— Das Startzeichen wird gegeben. Huiiiii- rumm-rumm donnern und knattern die Motoren.
Ein Höllenspektakel, Ölwolken, milchblau, schwarz, grau, stieben in die verpestete
Luft, und mit knatterndem Motor und feuerspeiendem Auspuff wie ein Torpedo schießt
der Rote mit Caracciola am Steuer los — laut gellen die Motoren der anderen, heulen
donnernd an mit Menschen überfüllten Tribünen in rasendem Tempo vorbei — ein Höllenlärm,
der jeden Laut, jede Stimme erstickt — das Rennen hat begonnen. Jetzt sollen Material
und Konstruktion bei der bis an die Grenzen des Möglichen gehenden Beanspruchung
zeigen, daß sie dem geplanten Serienwagen bei normaler Beanspruchung eine hundertfache
Sicherheit bieten. Langsam
ziehen die Staub- und Ölschwaden von der Bahn und zerstreuen sich im Wind
— die Bahn ist wieder zu übersehen. Dort jagt der Rote wie der Leibhaftige selber.
Ein rotes Torpedo, das scheinbar Leben in sich trägt. Dort ist er! Fast über die
Asphaltbahn fliegend, rundet die Maschine in wahnwitzigem Tempo die scharfe Nordkurve,
die Kilometerlängen verschlingend. Ehre, Ruhm, Zukunft der Fabrik und des Fahrers,
weiter ja der Landesfarben, hängen von dem Lauf der Maschine ab. Jetzt kommt die
Gerade, die gefürchtete Rennstrecke, hier sollen die Maschinen zeigen, was sie
leisten können. Die meisten Chancen hat das rote Mercedes-Kompressor-Modell unter
Caracciolas Führung, der in der Südkurve bereits an zweiter Stelle liegt. Aus
taktischen Gründen beabsichtigt Caracciola die Lage des Feldes auch in den nächsten
Runden beizubehalten und den Weißen französischer Nationalität vor sich zu lassen.
Ungeheuer schwere Anforderungen stellt die Bahn mit ihren gefährlichen Kurven
an Fahrer und Maschinen. Kaum hat Caracciola die Maschine beim Einbiegen in die
Gerade auf 138-Kilometer-Tempo gedrückt, so muß er schon wieder wegen der scharfen
Krümmung drosseln und höllisch aufpassen, daß er nicht die Gewalt über die jagende
Masse verliert. Die Schnelligkeit der Konkurrenz wächst in den nächsten Runden.
Ein kurzer Blick Caracciolas streift den Tachometer: 144, 152, 160, 165 Kilometer
— doch aufgepaßt, drosseln —— — Kurve — — — und schon stiebt der robuste Mercedes
mit sanfter Neigung durch die Kurve. Uiiiii — heulen die Reifen. Caracciola läßt
den Weißen nicht locker. Die Erregung und Spannung der Tribünenzuschauer steigt
mit jeder Minute — die Köpfe gestreckt, halb über die Sitze hängend, entgeht ihren
fiebrigen Augen kaum eine Maschine. Mit wilden Gesten, unartikulierten Schreien
wird jede Veränderung des aufregenden Kampfes begleitet. In
der Kurve stoppt der Franzose plötzlich sein rasendes Tempo — Caracciola stutzt
nur einen Augenblick — eine Finte — und gibt sofort wieder Vollgas. Doch zu spät,
schon schießen zwei Bugatti an ihm vorbei. Nummer 23 und 24 — aha, die Konkurrenz
sucht sich in geschlossenem Feld den zweiten und dritten Platz zu sichern. Caracciola
verzieht keine Miene, keine Muskel zuckt in seinem starren, gebräunten Gesicht.
Der Kompressor wird alles entscheiden. Vierzehnte, fünfzehnte, sechzehnte Runde.
Die Geschwindigkeiten werden immer größer — Rekordzeiten werden erreicht. Kann
das Rennen noch in der Gewalt der Lenker liegen? Die heulenden Ungeheuer scheinen
die Willenskraft der Führer abgeschüttelt zu haben. Sie selbst, die Maschinen,
kämpfen, hetzen sich ab, peitschen sich selbst scheinbar durch ihr eigenes Gedonner
und Geknatter immer rücksichtsloser an. Wie farbige Billardbälle schießen die
Maschinen durch die Kurven. Vorletzte Runde. Nicht weniger als vier Maschinen
liegen vor dem roten Mercedes, davon drei dicht vor ihm in geschlossener Reihe.
Etwa 1600 Meter
vor den Tribünen jagen die Rennwagen aus der Krümmung in die Gerade. Als Caracciola
in die Gerade biegt, gibt er seinem Mitfahrer ein Zeichen durch Kopfbewegung.
Blitzschnell tritt Caracciola mit dem Fuß den Beschleuniger, den Fußhebel des
Kompressors, nieder. Pfeifend und heulend saugt der Vergaser aus dem Gebläse die
Zusatzluft, dann noch ein schneller Griff zum Unterdruckfördererschalter. Jeder
Griff benötigt nur Bruchteile von Sekunden, scharf werden die Oberkörper der Fahrer
durch die enorme Geschwindigkeitssteigerung gegen die Polster gedrückt. Wie ein
Gespenst jagt der Mercedes an den beiden Bugatti-Wagen vorbei. Das begeisterte
Geschrei der Menge auf den Tribünen erreicht die Maschine nicht mehr. Beide Fahrer
sind mit der Maschine wie zu einem Körper verschmolzen. Unbeirrbar richtet Caracciola
seinen Blick auf den noch vor ihm liegenden Franzosen. Der Mercedes fliegt die
Asphaltbahn nur so hinunter, die Kurve stört ihn nicht und wird mit hoher Geschwindigkeit
genommen. Nur noch 50 Meter liegt die französische Konkurrenz vor ihm. Caracciola
rückt ihm unheimlich schnell näher. Nur stören die auffallend stärker werdenden
Staubwolken, die der scharfe Wind über die Bahn führt. Wie Nebel liegt es vor
Caracciolas Augen, so daß er schnell mit der Hand über die Brille fahren muß.
Dort — huiii — eine schwarze Staubwolke — dem Franzosen ist der linke Reifen abgeblasen,
und in hohem Bogen fliegt — während Caracciola ihn bereits überholt — die weiße
Maschine wie eine springende Kugel aus der steilen Kurve und bleibt am Abhang
zertrümmert liegen. — In der Ferne, am Ziel mischen sich die frohen Klänge
einer Militärkapelle mit dem „Vivat!" des Volkes, das dem Sieger begeistert zujubelt
— dem roten Mercedes-Kompressor unter Caracciolas Führung. Fand
früher der Autosport nur in wenigen meist wohlsituierten Kreisen einen Widerhall,
so ist er heute, wo der Motorwagen ein unentbehrlicher wirtschaftlicher Faktor
ist, ungemein populär geworden. Zu allen Jahreszeiten, in allen Gegenden finden
jetzt die verschiedensten Arten von Autoprüfungen statt, aber man darf leider
nicht verkennen, daß damit eine Zersplitterung in die einheitliche Beurteilung
der Rennergebnisse getragen ist. Die ungeheuren Geschwindigkeiten, die heute auf
besonders konstruierten Rennwagen erreicht werden, lassen es zudem angebracht
erscheinen, daß Rennen nicht mehr auf gewöhnlichen Landstraßen, sondern auf besonders
für diesen Zweck gebauten Rennbahnen zum Austrag kommen. In der Erkenntnis der
großen Bedeutung des Autosports sind wir auch in Deutschland dazu übergegangen,
derartige Anlagen zu bauen, wie z. B. die Avus in Berlin, ganz besonders aber
der Nürburgring, der eine Bahn von internationaler Bedeutung zu werden beginnt.
Die zahlreichen Unzuträglichkeiten und Todesfälle, die in letzter Zeit auf offenen
Landstraßen vorgekommen sind, werden auf diese Weise auf ein Minimum reduziert
werden. Ganz vermeiden werden sie sich leider nie lassen, denn die ungeheuren
Geschwindigkeiten, die halsbrecherischen Kurven werden stets Gefahrmomente bleiben,
die der Fahrer nur mit Einsatz seines Lebens unter Aufbietung stählerner Ruhe,
schneller Entschlossenheit und eines unermüdlichen Trainings bekämpfen kann. Quelle:
Oestergaards Monatshefte von Juli bis Dezember 1928; © by Peter J. Oestergaard-Verlag,
Berlin-Schöneberg, 1928; Jadu 2000 |